Hoyschrecke 1999

Ein seltsames Gefühl herrschte vor dem ersten Ton: Wie würde es sein, dieses erste Liedermachertreffen am neuen Ort? Nicht mehr in der -sagen wir es ruhig so- romantischen Atmosphäre der Braugasse 1, sondern im eher nüchternen Ambiente der Zwischenbelegung an der Alten Berliner Straße? Aber, es muss eingestanden werden: Der von der KuFa-Mannschaft stimmig hergerichtete Raum bewies überraschende Qualitäten. Das konnte man im TAGEBLATT nachlesen:

Zum nunmehr dritten Mal war die Hoyerswerdaer KulturFabrik Gastgeberin für das Liedermachertreffen – und man kann getrost sagen: Es war das bisher beste. Die Jury hatte es schwer wie nie, ehe entschieden war, wer in diesem Jahr die HoySchrecken, die von Helge Niegel geschaffenen Metallstatuetten, mit nach Hause nehmen konnte. Schließlich waren es zwei Dresdner, die in den «Punktebögen» ganz oben standen: Geralf Grems erhielt den Jury-Preis und Torsten Maxara für das «Kleinere Übel» den Textpreis des Hoyerswerdaer TAGEBLATTes. Und die Zuhörer blieben sich treu: Der Publikumspreis ging wieder an den jüngsten Interpreten. Beziehungsweise: Die jüngste Interpretin! Die 18-jährige Heide Kernchen aus dem brandenburgischen Pritzerbe erhielt die meisten Stimmen. Das war denn auch noch eine Premiere: Zum ersten Mal holte eine Sängerin einen Preis beim Liedermachertreffen.

Freitagabend, 21 Uhr: Hans Keller betritt die Bühne der KuFa. Er ist der erste von zwölf Interpreten, die an diesem Abend das Wertungsprogramm bestreiten, mit jeweils zwei Titeln Proben ihres Könnens geben. Da ist es für die Interpreten schon schwer, genau die zwei Stücke aus dem eigenen Repertoire zu finden, mit denen man ein möglichst gutes Bild von sich und seinem Schaffen vermitteln kann. Die meisten Liedermacher entschieden sich dabei für Stücke, die «liedermachertypisch» sind: text-dominiert, von sparsamer Gitarrenbegleitung untermalt,und meistens «große» Themen oder sehr Persönliches aufgreifend. Hans Keller wählte Letzteres. Zwar muss man ihm zugute halten, dass es der erste Sänger des Abends immer schwer hat, aber letztlich waren seine zwei Stücke eine Art Hannes-Wader-Kopie.

Danach trat Torsten Maxara auf. Der Dresdner war schon bei den beiden ersten Liedermachertreffen dabei gewesen, immer nur ganz knapp an den Preisen vorbeigeschlittert; und so waren die Kenner der Szene gespannt, ob er auch diesmal wieder mit bissigem Humor zu erleben sein würde. Nein, war er nicht. Aber das tat der Sache keinen Abbruch; besonders nicht dem Lied «Kleineres Übel», das eine Facette des DDR-Alltags (und nicht nur dessen) aufzeigt. Vor diesem erzählte er eine Alltagsanekdote: wie zu tiefsten DDR-Zeiten vier Freunde in der Dresdener Altstadt auf die Idee kommen, mitten im Winter in zwei großen, feuerbeheizten Wannen, aufgestellt im Freihof, ein Bad zu nehmen. Ein besorgter Bürger alarmiert die Polizei ob des Brandgeruchs. Die Staatsmacht stürmt den Hof, «…und was sie vorfindet, sind vier nackte badende Männer, vertieft in Gespräche, den Kopf mit Pudelmützen ordnungsgemäß gegen die Kälte geschützt.» Köstlich! Dann das «Kleinere Übel», ein aufs Höchste gelungenes Psychogramm derer, die sich zu allen Zeiten ohnmächtig wähnten in ihrem Tun und Lassen.

Als Heide Kernchen ihren Auftritt mit der Ankündigung begann, sie werde nun etwas über «Menschlichkeit» singen, mochte mancher innerlich aufgestöhnt haben. Doch wie die junge Brandenburgerin ihren Text in Szene setzte – alle Achtung! Präzises, facettenreiches Gitarrenspiel und eine mit erstaunlicher Perfektion geführte Stimme, die frauliche Wärme in den Tiefen und kristallklare Kälte in den Höhen gleichermaßen mühelos beherrschte: Das war schon überaus beeindruckend.
Den zweiten Teil des Abends eröffnete Geralf Grems. Er hatte 1998 mit einer seltenen Kombination aus derbstem Humor und Intelligenz aufhorchen lassen – und setzte wieder auf diese Karte. Außerdem erwies er sich als begnadeter Selbstdarsteller, der seine Stücke nicht einfach nur vortrug, sondern gestisch und mimisch vorlebte. Schon der «Nikolaus», eine ganz und gar unweihnachtliche Geschichte vom In-die-Schuhe-Schieben-(Lassen), begeisterte. Dann lamentierte Grems, man habe ihm beim letzten Mal mangelndes Zartgefühl vorgeworfen, darum wolle er jetzt ein schönes Liebeslied singen. Zwischenruf aus dem Publikum (des Rezensenten): «Das is aber schade.» Grems pariert sofort: «Du wirst dich noch wundern» – und in der Tat wurde «Schal & Rauch» alles andere als eine Liebeserklärung…

Samstags, beim Preisträger-Konzert, weigerte er sich zwar strikt, nochmals den «Nikolaus» zu bringen, aber was er anzubieten hatte, gehörte zum Besten – etwa «Edeltraut», in dem Grems kein gutes Haar an der deutschen Muster-Traum-Frau ließ… Nach der Pause dann der Auftritt der prominenten Gäste. Als Erste auf der Bühne: der Vorjahres-Jury-Preisträger Sebastian Günter Birr und Micha Günther. Letzterer, dessen Verein ProFolk Ausrichter des Liedermachertreffens ist, bekam vorab eine Ehren-HoySchrecke überreicht. Dann der von vielen erwartete Altmeister Jürgen Eger. Seine Lieder über den deutschen Untertan, eine Hans-Albers-Parodie, seine Psycho-Studie über Bundestags-Abgeordnete – Gesellschaftsbilder auf allerhöchstem Niveau: «Erst wurden uns die Friedenslieder abhanden gekommen – und plötzlich war Krieg.»

BESTER LIEDTEXT
Kleineres Übel

Von Torsten Maxara

Es liegt eine Ohnmacht in jenen Gesichtern
mit den glanzlosen Augen
und den schwieligen Händen
die nur taten was ihnen befohlen

Es liegt eine Ohnmacht auf jenen Gesichtern
mit dem abgeklärten Zug um den Mund
die da Bleistifte führten durch Zahlenkolonnen
eingepfercht zwischen Schreibtisch und Stuhl

Die wählten stets das kleinere Übel
nie das größere Vergnügen
Die blieben immer bescheiden dran
und nahmen die Maßlosigkeit
die nicht ihre war duldend in Kauf

Es liegt eine Ohnmacht in der stummen
Ergebenheit ins „Es ist, wie es ist“
in der Abkehr vom Fragen in der Scheu
sich zu wandeln und zu handeln

Es liegt eine Ohnmacht in den rastlosen Taten
der Bezwinger und Gewinner
der vom Glück Überrannten vom Ehrgeiz
Zerfressenen und Vergessenen

Die wählten stets das kleinere Übel
nie das größere Vergnügen
die blieben immer bescheiden dran
und nahmen die Zügellosigkeit
die nicht ihre war duldend in Kauf

Was hier not tut ist nicht einer der kündet
von härteren Zeiten sondern: Es reicht!
Für alle hier! Nur nicht wieder grad genug
für die Vielen und für die Wenigen noch viel mehr

Die wählten selten das kleinere Übel
meist das größere Vergnügen
die kannten keine Bescheidenheit
und nahmen die Unterwürfigkeit
die nicht ihre war billigend in Kauf