Hoyschrecke 1998

Wir wussten. dass wir zum letzten Mal in der alten KuFa an der Braugasse 1 ein Liedermachertreffen erleben würden. Aber, und darum kam in dieser Hinsicht kein Schmerz auf: Es würde ja nicht für immer sein, dass KulturFabrik und Liedermachertreffen vom Herzen der Altstadt an ihre äußerste Peripherie ziehen müssten; in die schon jetzt sinnigerweise „ZwischenBelegung“ getaufte Not-Unterkunft in einem Plattenbau an der Alten Berliner Straße 26. Spätestens 2003, so war es uns ja seitens der Stadt versprochen worden, würden wir wieder am alten Platz sein; im sanierten Haus mit noch mehr Möglichkeiten. Wie so anders sollte alles kommen… Aber vielleicht ist es besser, dass die Enttäuschungen der Zukunft nicht klar vor uns liegen – wer wollte sich mit solchem Wissen noch auf den nächsten Tag freuen?

Und trotz aller Un-Sorge um das Haus – heftigen Schmerz gab es ohnehin genug in jenem Jahr 1998. Im Frühsommer war Gerhard „Gundi“ Gundermann gestorben. „Erst der Verlust belehrt uns über den wahren Wert der Dinge“, sagt Arthur Schopenhauer. Und auch wenn wir alle schon zu Lebzeiten Gundi zu schätzen gewusst hatten – als er nicht mehr unter uns war, verstanden wir erst so recht, was mit ihm unwiderbringlich gegangen war. Nur allzu natürlich, dass das Liedermachertreffen 1998 ganz ihm gewidmet wurde; und rückblickend muss ich sagen: Es wurde, von der Atmosphäre her, das stimmigste Treffen überhaupt. Auch andere, denen Gundi kaum so nahestand, haben das ähnlich empfunden; siehe die 1998er Erinnerungen von Marianne Salz auf Seite 33. TAGEBLATT reflektierte das Treffen so:

Gedanken und Bilder, zu Liedern gekeltert: Was am Wertungs-Freitag vor gut gefülltem Haus zu hören war, konnte das Prädikat «stark» beanspruchen. Das Programm eröffnete ein sehr nachdenklicher Sören Ties. Den grellen Kontrast dazu bildete (dank der Auslosung der Auftrittsreihenfolge) schon der nächste Liedermacher: Geralf Grems aus Dresden. Er brachte zwei derbe, gefeierte Stücke aus dem Dresdner Zille-Milljöh zu Gehör: «Sperrmüll-Aktion» und eine Sittenstudie aus dem Lumpenproletariat «O Elke hol’/ uns noch’n Bier/ wenn ich dich doppelt seh’/ lieg‘ ich so gerne zwischen dir…» Wieder Szenenwechsel: Der sorbische Liederpoet Pittkunings erzählt Geschichten vom vergessenen Volk; den Sorben, die wohl so schwach nicht sein können, wenn sie 1 000 Jahre neben den ach so tüchtigen Deutschen überlebten…

Anschließend einer der Höhepunkte: Jörg Sieper mit einer Ballade über den Bahnhof Putlitzstraße. Nach ihm spielte Vorjahres-Textpreisträger Sebastian G. Birr. Schwer danach für den Hessen und Festival-Oldie Wolfgang Gerster, schwer auch nach der Pause für den Hoyerswerdaer Lokalmatador Vinzenz Fengler. Dann der Publikumspreisträger ’97, Martin Sommer (Erfurt). Er verstand es in Text, The?men und Instrumen?tierungsmustern am besten, sich als DER typische Liedermacher zu präsentieren. Martina Höfer brachte wieder erfreulich schlichte, leise, gereifte Töne ins Festival ein. Torsten Maxara aus Dresden gab sich gewohnt bissig, hatte aber mit der instrumentalen Umsetzung einige Sorgen, wie sie (außer Birr und Sieper) alle Gitarristen hatten – der sehr heiße Saal schien den in den kühleren Nebenräumen gestimmten Saiten einige Probleme zu machen. Den Schlusspunkt setzte Adelind Pallas (Dresden), den Text nur als Transporteur für Stimme und Klangkombination Klavier/ Saxophon nutzend.

Dann wurden die Stimmzettel des Publi?kums gezählt. Martin Sommer hatte seinen Vorjahres-Erfolg verteidigt! Beim Jury-Preis war’s (relativ) eindeutig, dass Birr diesmal die Goldene HoySchrecke zugesprochen bekam. Um den Textpreis hingegen gab’s einige Diskussionen, ehe ein von allen Jurymitgliedern getragener Sieger feststand: Jörg Sieper!“

Zum Preisträger-und-Promi-Konzert am folgenden Samstag lesen wir: Ovationen erntete (nach dem «Mittelalter-Spielmann» Thomas Felder) Hans-Eckardt Wenzel für seine bitterbösen Ost-West-Geschichten (die ohne das Gut-Böse-Klischee auskamen und gerade dadurch gewannen). Und dann, gegen 0 Uhr, der Moment, auf den fast alle der Besucher in der (restlos ausverkauften) KuFa gewartet hatten: Die Brigade Feuerstein um Conny Gundermann, Bernd Nitzsche und Elke Förster ließ in zehn Stücken noch einmal einen Bruchteil aus Gerhard Gundermanns Lebenswerk aufscheinen; des Mannes, dem das 98er Treffen gewidmet war. Und das war, trotz aller noch längst nicht verklungenen Trauer um Gundermann, wohl die gute Botschaft des Abends: Die bis kurz von Gundermanns Tod zerfallenen Feuersteine werden weitermachen. Gemeinsam.“

BESTER LIEDTEXT
Bahnhof Putlitzstraße*
Von Jörg Sieper

In Berlin unweit der Spree
liegen alte Schottergneise.
Wie Mehlstaub setzt sich dort der Schnee
Auf stillgelegte Gleise.
Den Bahnhof hat man ausrangiert,
Rost nagt an seinen Säulen,
nur ein Windzug, der sich hier verirrt
bringt ihn des Nachts zum Heulen.

Dort liegt ein abgestelltes Gleis
unter wuchernden Robinien
und zeichnet ins verschneite Weiß
zwei strenggezogne Linien.
Im Schaltwerk gibt es einen Schalter
der sich seit langem nicht mehr regt,
da stellt die Weiche sich dem Alter,
sie hat sich längst ins Gras gelegt.

Hier verewigt sich die Zeit
in den vergessnen Planken.
Hier verlor die Grausamkeit
Die allerletzten Schranken.
Ein alter Mann steht manchmal hier
mit einer offenen Wunde,
hört das Bellen von einem Tier
und denkt an die Schäferhunde.

*) Vom Bahnhof Putlitzstraße deportierten die Nationalsozialisten die Berliner Juden – heute ist er eine Art inoffizielles Mahnmal, das an die Opfer des Holocaust erinnert. Am 29. August 1992 wurde er durch einen Sprengstoff-Anschlag beschädigt. Kurze Zeit später stand an einer Wand: „Die Wahrheit kann man nicht wegbomben!“